On the Road with John Tarleton

Liebe und Zorn in Seattle: Der Tag an dem die WTO still stand


von John Tarleton
Dezember 1999

Inhalt

I. Und plötzlich war die Kreuzung in unserer Hand II. Eine Verfassung für das 21. Jahrhundert III. Die Linie halten IV. East-Denny-Street 420 V. Das "harte Team" VI. Die Randalierer VII. Die Absperrung an der Kreuzung Sechste Straße und University Street VIII. Zwei verschiedene Sprachen IX. Die letzte Bastion der Polizei von Seattle X. Abschließende Gedanken

Und plötzlich war die Kreuzung in unserer Hand

SEATTLE-- Es war noch stockduster und ein dünner, novembriger Nieselregen lag in der Luft, als sich die Gruppe H zu ihrer letzten Besprechung traf. Unsere Späher, die gerade von der Erkundung zurückgekehrt waren, berichteten, daß die Luft rein sei. Wir saßen in den hölzernen Bankreihen einer alten Kirche in der Innenstadt von Seattle und sprachen unser Vorhaben noch einmal durch. Es sollte an der Kreuzung der Sechsten und Union Street sein. Wir waren fünf Straßen vom Ort des Geschehens entfernt. Und, wir waren bereit, die Konferenz der World Trage Organization (WTO) lahmzulegen.

Die WTO ist eine der einflußreichsten Organisationen der Welt, aber trotzdem niemandem Rechenschaft schuldig. An diesem Morgen sollten die Mitglieder zu ihrer Jahresversammlung zusammenkommen. Während die Handelsminister, die Wirtschaftsfunktionäre und die internationale Presse noch in ihren Luxushotels schliefen, mobilisierten sich überall in der Stadt durschnittliche Menschen wie wir, um diese Schlafenden auf ihrem Weg zur Konferenz zu stoppen.

Eine bunte Prozession von ungefähr 80 Menschen verließ gegen 7.00 Uhr die Kirche. Wir liefen drei Straßen zur Fünften und Seneca Street , bogen ab und liefen bis zur Sechsten Straße. Die Polizei von Seattle hatte eine Verteidigungslinie hinter der Kreuzung von Sechster Straße und Union Street, einer der Hauptzugangswege zum Konferenz- und Handelszentrum von Seattle, aufgebaut. Schmetterlinge aus Pappmaschee schwebten über uns, während wir still und bestimmt voranschritten. Wir warteten an den Ampeln auf grünes Licht, so daß wir jede Kreuzung en masse passieren konnten. Die Polizeikräfte blieben wie eingefroren auf ihren Positionen. Und plötzlich war die Kreuzung in unserer Hand.

Diejenigen von uns, die "Verhaftbare" waren, setzten sich fünf Meter vor der Polizeilinie auf den nassen Boden und verketteten die Arme. Bald war die Kreuzung mit Trommlern und Tänzern gefüllt. Monarchen Schmetterlinge aus Pappmachee wogten über den festlichen Scharen.

Die Cheerleader feuerten die Menge an ("Hey, hey, hey, ho! Die WTO, die hat zu gehn!"..."So sieht Demokratie aus! So sieht Demokratie aus!"). Der Polizei den Rücken zugewendet, betrachteten wir das Spektakel vor uns. Nach Tagen von nervenaufreibenden Vorbereitungen, war ich doch selber überrascht von der Vorstellung.

Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als wenn unser Singen und Tanzen die Sicherheitskräfte zurückhalten könnte.

Eine Verfassung für das 21. Jahrhundert

Die WTO wurde 1994 als Nachfolgeorganisation des GATT (General Agreement on Trade and Tariffs) gegründet. GATT, eine obskure, in Genf ansässige Organisation, war seit dem Ende des zweiten Weltkrieges damit beschäftigt, internationale Zölle langsam abzubauen. An dem Gründungsabkommen der WTO wurde sieben Jahre lang gebastelt und es umfaßte 22.000 Seiten. Demnach ist es Aufgabe der WTO, als eine Art Schiedsrichter der globalen Wirtschaft zu fungieren, und für alle Beteiligten einen ebenbürtigen Spielrahmen zu gewährleisten. Renato Ruggiero, der erste Generaldirektor der WTO, umschreibt die Aufgabe der WTO mit diesen Worten: "Wir schreiben die Verfassung für das 21. Jahrhundert."

Im Namen des freien Handels haben die 135 Mitgliedsstaaten der WTO neue, drastische Machtinstrumente zur Schlichtung von Handelsdisputen übertragen. Jedes Land, im Namen seiner ansässigen Unternehmen, kann die Gesetze eines anderen Landes vor geheimen Schlichtungsausschüssen, denen jeweils drei Personen angehören, anfechten. Fast alle Gesetze, sei es ein Bundes-, Landes- oder Kommunalgesetz, die sich auf Umweltschutz, Arbeitsrecht, Konsumentenrecht oder Menschenrechte beziehen, können als Handelsbarriere deklariert und so, nach den Maßstäben der WTO, als "illegal" eingestuft werden. Jedes Land, das dem Schlichtungsspruch der WTO nicht entspricht, muß mit schweren Handelssanktionen rechnen. Seit der Einführung der Schlichtungsausschüsse wurden mehr als 20 Fälle gehört. Jedes angefochtene Gesetz ist außer Kraft gesetzt worden.

Die WTO Handelsminister kamen in Seattle zusammen, um eine weitere Verhandlungsrunde von weitreichenden Handelsabkommen (die Millenniumrunde) in Gang zu setzen. Diese Abkommen würden den Zuständigkeitsbereich der WTO radikal auf neue Bereiche, wie z.B. Finanzdienstleistungen, elektronischen Handel, Landwirtschaft und intellektuelles Urheberrecht, ausdehnen. Letzteres, das intellektuelle Urheberrecht, beinhaltet das "Recht" zur Patentierung von Pflanzen- und Tiergenen, wie auch menschlicher Gene.

In der zukünftigen Welt der WTO kann alles Konsumgut werden und gemäß der WTO-Regulierungen ge- oder verkauft werden. In ihrem Plan hat diese geheimnisvolle, eigennützige Organisation nur zwei Dinge vergessen: die Erde und ihre Bewohner.

Die Linie halten

Kurz nach dem Morgengrauen hörte es auf zu regnen, und am frühen Morgen zeigten sich Risse in den dicken, grauen Wolken. Acorn, eine ruhige, rundgesichtige Frau, saß auf meiner linken Seite, zu meiner Rechten ein rot-bärtiger Mann namens Jesse. Wie die Meisten auf der Straße, waren sie zwischen 20 und 30 Jahre alt.

Unsere Reihe wechselte zwischen Sitzenden (die bessere Position, sollte die Polizei eingreifen) und Stehenden, die den Weg der herannahenden Delegierten, die aus dem in der Nähe liegenden Hotel Sheraton kamen, blockierten.

Einmal kam ein älterer, freundlich aussehender Polizeibeamter herüber und redete mit uns. Er riet uns, den Delegierten zu erklären, daß die Polizei wünsche, daß sie nicht versuchen sollen, durch die Reihen der Demonstranten zu brechen. Der Name des Polizisten war Sergeant Vander Keeven. Er hatte einen grauen Schnäuzer und einen dicken, weichen Bauch, so weich und rund wie ein Donut.

"Wir möchten nicht, daß es zu Gewalttätigkeiten kommt," sagte er ermutigend.

Frustrierte Delegierte

Einige Delegierte, voller Ärger, versuchten trotzdem sich durch die Linien zu kämpfen. Sie konnten es nicht glauben, daß einfache Leute ihnen das Recht absprachen, sich hinter geschlossenen Türen zu treffen und Hinterzimmerabsprachen zu treffen, die einerseits die Leben von Milliarden von Menschen und andererseits Billionen von Dollar in Handel beeinflussen.

Einige andere, so z.B. ein französischer EU-Parlamentarier, verloren sich in Erinnerungen daran, daß auch sie einst Radikale waren, aber nun das System von Innen heraus bekämpften. Wir blieben friedlich, aber hartnäckig: die WTO sei für den Tag lahm gelegt. Die Delegierten, weiter auf der Suche nach einem Eingang, zogen die Straße entlang. Auch einige professionelle Journalisten versuchten so durch die Reihen zu dringen.

"Ich muß da rein, um meinen Artikel an die Redaktion zu schicken," sagte ein deutscher Journalist. Sein Vorwärtsstreben war gestoppt worden und er war verärgert.

"Was meinen Sie damit?" fragte jemand. "Die richtige Geschichte passiert hier draußen."

Der Mann schnaubte, machte auf den Haxen kehrt und stürmte in sein Hotel zurück.

East-Denny-Street 420

Der surreale Aufstand, der am 30. November auf den Straßen von Seattle tanzte, war in einem weitgestreckten Lagerhausraum in der East-Denny-Street 420, auf einem Hügel in der Nähe der Innenstadt, ausgebrütet worden. In der Eingangshalle des Lagerhauses hing ein großes Spruchtuch ("The WTO Sucks. And You Can Too. Wear a Condom."), das die Stimmung des Augenblicks spiegelte: herausfordernd und doch äußerst pragmatisch. Die Oberorganisation hatte hier die Direct Action Network, das Netzwerk für direkte Aktionen, (DAN), die eine ,zwar nebulöse Anzahl, aber dafür gut vorbereitete, Gruppen von Aktivisten koordinierte. Zu den Gruppen zählten: Global Exchange, Rainforest Action Network, Ruckus Society, SISPES, IWW, die Grünen Partei von Seattle und die Seattle Gruppe von Earth First.

Zehn Tage lang ging es in der East-Denny-Street 420 zu wie in einem Taubenschlag. Die Aktivitäten erstreckten sich von Workshops zu gewaltlosen Demonstrationsformen, über Informationsveranstaltungen zur Rechtslage, zu Verhaltenstraining bei Verhaftungen bis hin zu Informationsveranstaltungen, die Fakten über die WTO und ihre politischen Handlungen verbreiteten. Als weitere Workshops wurden angeboten: Training in Demonstrationsrhetorik, Tanz, Herstellung von gigantischen Puppen aus Pappmachee und vieles mehr. Im Hinterraum gab es eine Küche, die täglich tausende von Gratismahlzeiten zubereitete.

13 Tortenstücke

Die treibende Kraft für all diese Aktivitäten war der Plan einen gewaltfreien Massenprotest in Gang zu setzen, der die WTO Konferenz lahmlegen würde. Ein Stadtplan der Innenstadt von Seattle hing an der Wand. Er war in 13 Tortenstücke aufgeteilt, die mit den Buchstaben A-L versehen waren. Der Mittelpunkt der Torte lag über dem Konferenzzentrum. Verschiedene Gruppen von Aktivisten aus dem ganzen Land schlossen sich zusammen, um jeweils für ein Stück der Torte die Verantwortung zu übernehmen. Jede dieser verantwortlichen Gruppen erarbeitete dann selbstständig einen Plan, wie die strategischen Punkte in ihrem Gebiet am besten zu sichern seien.

Gleichzeitig wurden zentral eine juristische Kooperative, ein Erste Hilfe Chor, eine unabhängige Pressegruppe, ein taktisches Team und ein Kommunikationsteam organisiert, um die anderen Gruppen zu unterstützen. Entscheidungen innerhalb der Gruppen und Absprachen der Gruppen untereinander wurden in Kreisen getroffen, die nach dem Konsensus-Prinzip funktionierten. Es war langatmig und zeitaufwendig. Es gab keine Führungspersonen, die Anweisungen gaben. Am Ende der Besprechungen aber waren sich alle einig. Die Zeitung Seattle Post Intelligencer sollte sich später darüber auslassen, daß die WTO Demonstranten ein unorganisierter, kopfloser, konfliktsuchender Organismus gewesen seien. Keine Aussage könnte weiter von der Wahrheit entfernt liegen.

Mutig genug verletzlich zu sein

Das Lagerhaus East-Denny-Street 420 stand allen offen, auch den Medien und den Polizeispitzeln. Ich fand das Lagerhaus an meinem ersten Morgen in Seattle, eine Woche vor dem großen Tag. Ich war in die Stadt gekommen mit der wagen Idee, über die WTO Konferenz zu schreiben und mehr über Globalisierung zu lernen. Schnell hatte ich erkannt, daß East-Denny 420 der richtige Ort dafür war.

Junge Menschen bis 30 und leicht schmuddelige Teenager waren hochinformiert über die Themen der WTO. Und sie waren bereit zu handeln. Ihr Enthusiasmus war ansteckend. Ich begann Leute zu interviewen und Notizen zu machen. Aber zufrieden war ich immer noch nicht.

An einem Abend schloß ich mich einer Trainingseinheit für Aktionen an. Ich erlebte einen Moment der Klarheit, während ich mit 40 anderen auf dem Boden saß, die trotz ihrer Ängste Verhaftungsszenarios durchübten.

Es war nicht länger genug schöne Worte zu schreiben oder ihnen Glück zu wünschen. Ich wollte über die Proteste und die Demonstranten berichten, auf unverfälschte Art. Ich glaubte an das was sie taten und an ihren Mut und ihre Integrität. Sie waren mutig genug verletzlich zu sein und ich wollte an ihrer Seite stehen.

Das "harte Team

Nach einer Stunde unseres Straßenkarnevals, tauchte zum ersten Mal die Sondereinsatztruppe der Polizei (im Polizeislang: das "harte Team") in ihrer Spezialausrüstung auf. Sie waren mit Gummiknüppeln, Tränengaskanistern, Pfefferspray, Gasmasken, Pistolen und Panzerfahrzeugen ausgerüstet. Scharfschützen mit automatischen Waffen bezogen an den Flanken der Polizeilinien Position.

Das Sonderkommando zog die Gasmasken an. Eine Frau in knallroter Baskenmütze eilte mit einer Flasche Essiglösung , die wir auf die Innenseite unserer Mundtücher verteilten, an unserer Linie entlang.

"Denkt dran, haltet die Arme fest verkettet," sagte Jesse. "Wenn ihr Eure Ellenbogen fallen laßt, ist es für die Polizei leichter Euch wegzuzerren."

Ich nahm einen großen Schluck Essiglösung und konzentrierte mich darauf durch meine Nase zu atmen. Ich dachte an Ghandi und Martin Luther King und in diesem Augenblick verstand ich, worum es bei zivilem Ungehorsam ging: man ist bereit seinen Körper und seine Freiheit aufs Spiel zu setzen, für etwas an das man mit ganzem Herzen glaubt. Gleichzeitig ist man vollkommen ungeschützt, komme was wolle.

Doch dann verschwand das Sonderkommando ebenso plötzlich, wie es gekommen war.

"Wessen Straßen?! Unsere Straßen?!

Die nächste Stunde erschien wie ein Traum, das Sonderkommando erschien mehrere Male, setzte die Gasmasken auf und verschwand ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Demonstranten kamen vom Victor Steinbroeck Park und ließen unsere Gruppe anschwellen. Die Rhythmen der Trommlerzirkel wurden eindringlicher, während sich die Kreuzung mit Demonstranten, grünen und blauen Meeresschildkröten und gigantischen Puppen füllte. Über Funk hörten wir, daß die Gruppen I und K bereits mit Gas benebelt worden waren -- für uns war es nur noch eine Frage der Zeit.

Zuerst versuchte die Polizei beritten vorzurücken. Es saßen jedoch so viele Menschen dicht beieinander (was die Pferde scheu macht), daß sie sich zurückziehen mußte.

Ein Polizeilautsprecher dröhnte immer wieder: " Dies ist eine ungesetzliche Versammlung. Sie haben fünf Minuten, um sich zu zerstreuen..."

Die Polizei hoffte innigst, daß die Ankündigung eines nahenden Eingriffs ausreichen würde, um einen Großteil von uns in die Flucht zu schlagen. Stattdessen wuchs die Menge an und wurde fordernder.

"Wessen Straßen?! Unsere Straßen! Wessen Straßen?! Unsere Straßen!," schrie die Menge zurück.

Ich blickte über meine Schulter und sah mehrere Menschen, darunter eine Großmutter mit silbrigem Haar und mit einer Gasmaske, die direkt vor der Polizeilinie standen. Ein Demonstrant forderte die Polizei per Megaphon auf, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten.

"Warum", fragte er, "bedrohen Sie friedliche, unbewaffnete Demonstranten mit Schlagstöcken, Tränengas und Panzerfahrzeugen, wenn die wirklichen Kriminellen im Gebäude hinter Ihnen zu finden sind?!"

Der Sprechchor der Menge erhob sich wieder: "Hey, hey. Ho, ho. The WTO has got to go. Hey, hey. Ho, ho. Die WTO hat zu gehn'..."

Tausende Menschen behinderten den Verkehr um das Konferenzzentrum. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei von Seattle mehrere Möglichkeiten: Erstens konnten sie die Dinge so lassen wie sie waren. Zweitens könnte sie tausende von friedlichen Demonstranten in Gewahrsam nehmen; Demonstranten, die bereit waren, und in einigen Fällen erpicht darauf, verhaftet zu werden. Außerdem waren sie gut auf Verhaftungen vorbereitet. Die dritte Möglichkeit war eine Menge Kraft aufzuwenden, um die Menge für eine Weile zu zerstreuen.

Die Beamten der Einsatztruppe ließen zu ihrer Beruhigung die extra langen, bordeaux-farbenen Gummiknüppel schwingen und zogen ihre Gasmasken an. Überall waren Videokameras und die Menge rief im Chor: "Die ganze Welt schaut zu! Die ganze Welt schaut zu!", als die Polizei vorrückte.

Der Polizeiangriff

Bald war die Luft gefüllt mit dem heimtückischen und brennenden Geruch von Tränengas. Mir schossen die Tränen in die Augen und ich begann nach Luft zu ringen. Das Letzte was ich sah, bevor ich mir mein Mundtuch über die Augen zog, waren Menschen in meiner Nähe, die mit Pfefferspray besprüht wurden.

Qualvolle Schreie mischten sich mit dem floppenden Geräusch der Gummigeschosse, die in das Zentrum der Menge geschossen wurden. Acorn rief: "Laß los!" und ich ließ ihr Handgelenk frei. Ich lag zusammengekauert am Boden und erwartete jeden Augenblick von der Polizei weggezerrt zu werden. Eine Hand hielt ich über mein Mundtuch, mit der anderen schützte ich meinen Hinterkopf.

Nichts geschah. Dann hörte ich eine freundliche Stimme rufen: "Er braucht Hilfe!"

Jemand, der sich Schwester Ed nannte, griff mir unter die Arme und zerrte mich 75 Meter von der Kreuzung weg. Nach ein paar Minuten ließ ich zögernd mein Mundtuch herunter und jemand wusch meine Augen mit kaltem Wasser aus. Ich sah zurück auf die Kreuzung: weißer Nebel hing in der Luft und ein Panzerfahrzeug stand in ihrer Mitte.

Die Randalierer

Nachdem die Polizei die Kreuzung Sechste Straße und Union Street gesichert hatte, gab ich dem belgischen und taiwanesischen Fernsehen Interviews. Dann zog ich durch die Innenstadt, um mein weiteres Vorgehen zu erörtern. Selbsternannte Anarchisten aus Eugene, Oregon bevölkerten die Straßen. Sie waren von Kopf bis Fuß schwarz eingekleidet, nur ihre Augen waren sichtbar. Einer von ihnen zog einen demolierten Zeitungsautomaten die Straße hinunter, andere umzingelten wehrlose Müllcontainer und zogen sie aus den kleinen Seitenstraßen.

Diese Randale waren lächerlich und es waren nur einige Dutzend. Die Randalierer glaubten an nichts außer an ihren eigenen Zorn. Was kann man über Leute sagen, die glauben, daß sie mit Graffiti-Sprayereien und mit mitten auf der Straße angesteckten Müllcontainern den "Kapitalismus zerstören"?

Später sollten die Randalierer damit beginnen, sporadisch Fenster von Geschäften einzuschlagen, in sicherem Abstand zu den Sicherheitskräften. Diese Nebenvorstellung war das Vorspiel für die Gewalttätigkeiten der Polizei, die sich später über die restlichen 99% der Demonstranten ergossen, die friedlich waren. Diese Randalierer ließen eine zwar massive, aber dennoch friedliche Demonstration, wie die Medienkarikatur einer "Ausschreitung" aussehen. Es war ein Verrat an tausenden von ernsthaften und friedlichen Demonstranten. Hätten die Randalierer nicht existiert, dann hätte man sie zur Rechtfertigung der angewandten Gewalt gegen die Demonstranten, an offizieller Stelle erfinden müssen.

Die Absperrung an der Kreuzung Sechste Straße und University Street

Die spektakulärste Absperrung des Tages war an der Kreuzung Sechste und University Street, einer weiteren strategisch wichtigen Kreuzung. Ich kam dort um 11.30 Uhr an und beobachtete, wie die Einsatztruppe einen kleinen Haufen Demonstranten mit Tränengas und Pfefferspray bearbeitete. Videokameras surrten und die Menge begann die Nationalhymne "the Star-Spangled Banner" zu singen, als sich das Sonderkommando ein weiteres Mal zurückzog.

Im Zentrum dieses Geschehens fand ich sechs Aktivisten. Sie lagen flach auf dem Rücken und bildeten mitten auf der Straße ein Hexagon. Ihre Arme lagen in Stahlrohren, die jeweils von Teer, Gummi und ca. 50 cm Zement umgeben waren. In den Röhren gab es eine Halterung, an der sich die Demonstranten festhielten, die sie aber auch, wenn nötig, loslassen konnten.

Die "Hardcores", wie sie sich selber nannten, waren seit 8.00 Uhr schon viermal begaßt worden. Sie hatten ca. ein Dutzend Freunde aus ihrer Gruppe, die sich um ihre Bedürfnisse kümmerten und die sich bei Polizeiangriffen schützend über sie lehnten. Die Gruppe erwartete einen weiteren Angriff und ich konnte mich nicht abwenden, als sie um Hilfe baten.

Spike

Ich kniete mich vor Spike, einer Frau so um die Dreißig mit blonden Haaren. Ich massierte ihre Beine, während jemand anderes ihre schmerzenden Schultern massierte. Spike lag seit mehr als vier Stunden in der selben Position.

Die Einsatztruppe zog ihre Gasmasken wieder an. Ich tränke mein Mundtuch erneut in Essiglösung und sprach mich kurz mit Roots, einer Frau neben mir, ab. Kniff sie mich dreimal kurz in mein rechtes Knie, sollte ich Spike loslassen. Da nahm die Polizei ihre Gasmasken ab.

Während der Pause näherte sich ein neugieriger Fernsehreporter und fragte Spike, wie sie sich fühle. Die Trommler wirbelten noch. Feste Reihen von Menschen hinderten die Delegierten daran das Konferenzzentrum zu betreten. Ein großer blauer Wal namens Flo lag mitten auf der Straße. Die Eröffnungssitzung der WTO war auf 14.30 Uhr verschoben worden und sollte später abgesagt werden. Die vergoldete Innenstadt von Seattle sollte für einen Tag eine gigantische einkaufsfreie Zone sein.

"Ich fühle mich eins mit den anderen", sagte Spike. Sie war gleichermaßen erschöpft und euphorisch. "Es ist klasse!"

Noch einige Male bereitete sich die Einsatztruppe auf einen Angriff vor, doch zu einem Vormarsch kam es nicht. Spike erzählte von Unterhaltungen, die sie am Vorabend an der Bar des Sheraton Hotels mit Vertretern einiger Dritte Welt Länder geführt hatte.

"Viele von ihnen sind sauer", erzählt sie, "Viele der Hilfeleistungen, die ihnen bei einem Beitritt in die WTO versprochen worden waren, sind nie erbracht worden. Wir sollten mit ihnen von Mensch zu Mensch reden, genau wie mit der Polizei. Jedes freundliche Wort zu einem Polizisten verringert meine Chance, meinen Kopf mit einem Gummiknüppel bearbeitet zu bekommen."

Später wurde bekannt, daß die Polizei zeitweise kein Tränengas mehr zur Verfügung hatte. Die "Hardcores" berieten sich an ihrem Liegeplatz und diskutierten ihre weitere Vorgehensweise. Einige von ihnen hielten es für eine gute Idee die Party die ganze Nacht über am Laufen zu halten. Andere meinten, es sei besser für diesen Tag Schluß zu machen. Letztere Meinung setzte sich schließlich durch.

"Eine wichtige Sache, die ich hier gelernt habe ist", bemerkte einer der "Hardcores", "wann man den Sieg verkündet und abzieht."

Zwei verschiedene Sprachen

Als ich die Kreuzung Sechste Straße und University verließ, hielt ich inne, um eine Unterhaltung zwischen einem U.S. Handelsvertreter und einigen jugendlichen Demonstranten zu verfolgen. Der Handelsvertreter war ruhig und mitfühlend. Seine blonde Fönfrisur saß perfekt. Er erinnerte daran, daß auch er einst gegen den Vietnam Krieg demonstriert habe.

"Ich fühle Euren Schmerz", begann er, bevor er von Gelächter unterbrochen wurde.

Er wurde mit Fragen zu verschiedenen U.S. Handelsgesetzen und zu anderen politischen Maßnahmen, die die WTO betrafen, bombardiert. Die Demonstranten wollten von ihm wissen, wie er zu diesen Themen stehe. Er wollte sich nicht festlegen.

"Ich möchte Ihnen im Moment zuhören", sagte er, "was ich glaube ist hier irrelevant."

Die Fragensteller waren erstaunt. Jemand fragte: "Wie können Sie sagen, dass das, woran Sie glauben, irrelevant ist?"

Es war als würden zwei verschiedene Sprachen gesprochen. Ich ging weiter, umrundete das Konferenzzentrum. Straßensperren der Demonstranten hielten noch an zwei Kreuzungen: Seneca und Hubbell, Seneca und Achte Straße. Auch das Paramount Theater, in dem ursprünglich die Eröffnungszeremonie geplant war, war von einer großen Zahl von Demonstranten umzingelt.

Der große Protestzug der AFL-CIO Gewerkschaften zog in der Nähe vorüber. Einige der Gewerkschaftler verließen den Zug, um sich den Straßendemonstranten anzuschließen. Die Meisten jedoch zogen zurück in das Stadium, aus dem sie aufgebrochen waren. Die Gewerkschaften, wie gewöhnlich, hielten ihren Protest im engen Kreis ihrer Organisation.

Die letzte Bastion der Polizei von Seattle

Mit der Dämmerung, die sich über die Stadt legte, kam weiterer Ärger. Ein Haufen Seattler Teenager, von der non-stop Fernsehübertragung angezogen, randalierten ihren Weg durch Niketown an der Kreuzung Sechste Straße und Pine und stahlen ein paar Turnschuhe. Währenddessen hatte der Bürgermeister von Seattle, Paul Schell, den Ausnahmezustand ausgerufen, und zwei Einheiten der Nationalgarde wurden als Verstärkung geschickt. Der Bürgermeister stimmte ferner der Benutzung einer agressiveren Variante von Tränengas zu.

Mit dem Abfeuern großer Mengen von Tränengas und Platzgranaten ließen die neu bewaffneten Sicherheitskräfte die aufgestaute Wut eines ganzen Tages ab. Im Fernsehen sahen die Betonschluchten der Seattler Innenstadt aus wie eine Kriegskampfzone. In Wahrheit hatte der größte Teil der Demonstranten bereits Feierabend gemacht und war nach Hause gegangen.

Als die Nacht hereinbrach, hatte die Polizei auch die letzten Demonstranten aus der Innenstadt gefegt und bis hinter den I-5 Highway zurückgedrängt. Zu diesem Zeitpunkt hätten diese letzten Demonstranten nach Hause gehen können und auch die Polizei hätte sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe, der Sicherung der Innenstadt, zuwenden können.

Stattdessen spielten beide Gruppen ihr Spielchen lange genug um in den 22.00 Uhr Nachrichten zu landen. Die Demonstranten schmissen Container mitten auf die Pine Street, während die Polizei sie langsam bis zum Broadway zurückdrängte. Die Sicherheitskräfte warfen wahllos Tränengaskanister in Gruppen neugieriger Zuschauer, unter denen sich auch Eltern mit ihren Kindern befanden. Ein übler weißer Nebel hing über dem Stadtteil Capitol Hill.

"Wir sind von Haus aus keine Demonstranten, wir arbeiten", erklärt Jeanette Wallis, eine Psychologische Beraterin, die in Capitol Hill wohnt. "Wir waren um 21.00 Uhr zuhause und hörten Bomben in unserem Viertel hochgehen. Wir sind herausgekommen um zu sehen, was passiert."

Kevin Harris, ein Webpagedesigner, der ebenfalls in Capitol Hill lebt, stand mit seinem acht jährigen Sohn Saj auf der Straße, als er versehentlich von der Polizei begaßt wurde. Saj, der die zweite Klasse in der Madrona Grundschule besucht, bekam so schwere Atembeschwerden, daß sein Vater dachte, er würde ersticken. Noch mehrere Tage lang hatte er Kopfschmerzen.

"Ich bin über diese Geschichte so verärgert", sagte Harris, "das ich es nicht in Worte fassen kann."

Abschließende Gedanken

Tausende junger Menschen widerstanden Tränengas, Gummiknüppeln und Gummigeschossen, um am 30. November die WTO lahm zu legen. Tom Hayden hat Seattle 99 als wichtiger als Chicago 1968 eingestuft. Newsweek spekulierte, daß Seattle den Anfang der Globalisierung des Sozialengagements markiert. Wie also haben es diese jungen Menschen geschafft, diese zumeist friedliche Demonstration auf die Beine zu stellen?

Die Organisatoren machten kein Geheimnis aus ihrem erklärten Ziel, der Lahmlegung der WTO Konferenz. Polizeiwagen umrundeten in unregelmäßigen Abständen die Organisationsräume in der East-Denny-Street 420. Und, wie man in veröffentlichten Berichten nachlesen kann, verschiedene Sicherheitsabteilung, darunter das FBI, hatten Demonstrationsgruppen schon seit dem Frühsommer infiltriert.

Einige Vertreter der Dritte Welt Länder waren überzeugt, daß die Demonstranten von der Regierung Clintons und Gores unterstützt worden waren, um sich mit Umweltschützern und Gewerkschaftlern gut zu stellen. Andere Zyniker glaubten, daß die Regierung die Demonstrationen stattfinden ließ, weil sie wußten, daß Gruppen, wie die Randalierer aus Eugene, quer schlagen würden und so die Gesamtheit der Anti-WTO Demonstranten durch die Randale an Legitimität verlieren würden.

Nach der Apathie

Eine einfachere Antwort ist dies. Wir sind so lange eine Nation von Schafen gewesen, daß unsere politischen Führer dachten wir seien zu apathisch, um uns für irgend etwas zu interessieren, am allerwenigsten für die WTO. Als sie Ankündigungen mit dem Aufruf zur Lahmlegung der WTO Konferenz sahen, werden sie wohl gelacht haben, und sich darunter einen jämmerlichen und halbherzigen Protest gegen die Führungsschicht vorgestellt haben. Vielleicht haben sie gedacht, wir könnten nicht mehr auf die Beine stellen.

Wenn dem so sei, dann haben sie sich geirrt

Links:

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Photos von John Tarleton and Stephanie Greenwood

Übersetzung aus dem Englischen von F. Paschen und D. Quiggle